Vom Keller auf die Leinwand – eine medienethische Analyse des Films 3096 Tage

Dieser Essay ist im Rahmen des Moduls Medienethik an der Fachhochschule Graubünden entstanden. Ich wünsche eine gute Lektüre.

Unsplash: Sydney Sims
  1. Einleitung

3096 Tage dauerte die Tortur, die Natascha Kampuschs Kindheit, wenn nicht gar ihr Leben zerstörte. Die Geschichte um das zehnjährige Mädchen aus Österreich, das auf ihrem Schulweg entführt wurde und das sich nach 3096 Tagen aus eigener Kraft aus seiner Gefangenschaft befreien konnte, ging um die Welt. Über ihre Entführung, die Erlebnisse im Kellerverlies ihres Peinigers und ihre Flucht veröffentlichte Kampusch 2010 ein Buch mit dem Titel 3096 Tage. Der Bestseller diente als Grundlage für den gleichnamigen Film, der 2013 in die Kinos kam. Das autobiografische Spielfilmdrama zeichnet die Erlebnisse der Natascha Kampusch nach und zeigt die Skrupellosigkeit ihres Peinigers Wolfgang Priklopil, der Kampusch u. a. auch sexuell ausgebeutet hat. Auf diese sexuelle Gewalt soll in dieser Arbeit fokussiert werden. Spielfilme haben durch ihre emotionale Narration das Potential, Einstellungen, Normen und Rollenkonstruktionen gegenüber Betroffenen sexueller Gewalt (sowohl Täter, als auch Opfer) in der Gesellschaft zu beeinflussen (Kotthaus, 2015). Der Umstand, dass Spielfilme Realität schaffen und gleichzeitig aus ihr entstehen, ist vor dem Hintergrund eines autobiografischen Spielfilms wie 3096 Tage, der für sich in Anspruch nimmt auf wahren Begebenheiten zu beruhen, besonders spannend. Die Produktion des Films an sich und die dargestellte Gewalt soll in der Folge aus einer medienethischen Perspektive untersucht werden. Die Fragestellung lautet: «Ist es medienethisch vertretbar, einen Spielfilm wie 3096 Tage zu produzieren, der das erfahrene Leid der Natascha Kampusch für Unterhaltungszwecke auszubeuten droht?
Dafür wird die Arbeit in fünf Teile gegliedert: Nachdem im nächsten Kapitel die relevanten Begriffe genauer definiert werden, folgen in Kapitel drei einige Informationen zum Film 3096 Tage. In Kapitel vier wird die Fragestellung in einer Argumentation bearbeitet. Eine Schlussfolgerung in Kapitel fünf wird die vorliegende Arbeit mit einem Ausblick abschliessen.

2. Begriffserklärungen und Definitionen

Weil Gewalt nicht per se etwas Schlechtes sein muss, sollen nachfolgend die Begriffsverständnisse der Gewalt und des Zwangs für diese Arbeit definiert werden. Ergänzend wir erläutert, was unter sexueller Gewalt verstanden wird.

2.1. Gewalt und Zwang

Zanetti (2011) hält einleitend zu ihren Gedanken zum Gewaltbegriff fest, dass es legitime Zwangsmassnahmen gibt. «Wenige würden bestreiten, dass eine gesellschaftliche Ordnung ohne legitime Zwangsmassnahmen zur Ahndung von Straftaten den einzelnen Bürgern wenig Sicherheit und Rechtsgarantie gewährt» (Zanetti, 2011, S. 356). Diese legitime Art von Gewalt soll in der Folge ausgeblendet werden. Im Fokus steht die individuelle Gewalt, die sich dadurch äussert, dass ein oder mehrere Menschen intendiert physische oder psychische Gewalt gegen einen oder mehrere andere Menschen und gegen deren Willen ausüben. Die psychische Komponente soll bewusst in das Begriffsverständnis einfliessen, weil deren Folgen (in Anbetracht des untersuchten Artefakts) oft langfristiger sind, als die Folgen physischer Gewalt (Zanetti, 2011).
Der Zwangsbegriff wird als eine oder mehrere Handlungen verstanden, die die Handlungsfreiheit eines anderen Menschen einschränkt, sodass dieser zu einer bestimmten Handlung genötigt wird (Nozick, 1969).

2.2 Sexuelle Gewalt

Sexuelle Ausbeutung, sexuelle Gewalt, sexuelle Misshandlung, sexueller Missbrauch:
Die Liste der in der Literatur oftmals Synonym verwendeten Begriffe in diesem Themenbereich ist lang. Jeder Begriff betont einen Aspekt, den ein anderer in den Hintergrund stellt. Sexuelle Gewalt soll hier als eine allgemeine Gewaltform verstanden werden, die die sexuelle Selbstbestimmtheit eines Menschen untergräbt (Kotthaus, 2015). Explizit einvernehmliche sexuelle Handlungen, die mit Schmerzen einhergehen, sind von dieser Definition ausgeschlossen.

3096 Tage – Eine Übersicht

Ohne dem Zuschauer einen Hinweis auf ein mögliches Motiv zu geben, wird die zehnjährige Natascha Kampusch auf dem Schulweg vom arbeitslosen Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil entführt. In der nächsten Szene ist Natascha in ihrem nur wenige Quadratmeter grossen, spartanisch eingerichteten Kellerverlies, das sie während den nächsten acht Jahren nur selten verlässt. Priklopil fordert keinerlei Lösegeld und lebt an Kampusch eine Art Kontrollfantasie aus. So wiederholt er immer wieder, dass sie ihm zu gehorchen habe und er es sei, der das Wesen der Natascha erschaffen habe. Wenn Natascha gegen die Regeln verstösst, folgen Demütigungen, Nahrungsentzug und Schläge. Nataschas Devise lautet, sich möglichst mit der Situation zu arrangieren, um nicht drangsaliert zu werden. Nach Jahren ohne Tageslicht darf Kampusch gelegentlich ihr Verlies verlassen und halbnackt und unter der wachsamen Aufsicht ihres Peinigers Hausarbeiten erledigen. Mit Kabelbinder an das Handgelenk ihres Peinigers gebunden, wird Kampusch in der Pubertät dazu gezwungen mit Priklopil im selben Bett zu schlafen.

Ab dem 16. Lebensjahr wird sie dabei auch vergewaltigt. In einem unaufmerksamen Moment Priklopils, gelingt Kampusch mit 18 Jahren die Flucht. Noch am selben Abend wirft sich Priklopil vor die Wiener S-Bahn. Der Medienrummel beginnt, der Film endet.
Im Mai 2010, vier Jahr nach ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft, schloss Natascha Kampusch mit dem Produzenten Bernd Eichinger eine Vereinbarung ab, ihre Erlebnisse verfilmen zu lassen. Eichinger verstarb allerdings überraschend an einem Herzinfarkt und so schrieb Ruth Toma das Drehbuch zu Ende. Regie führte die Deutsch-Amerikanerin Sherry Hormann.

Argumentation

In diesem Kapitel soll der Fragestellung nachgegangen werden, ob es aus medienethischer Sicht vertretbar ist, einen Film wie 3096 Tage zu produzieren, im Wissen, dass das erfahrene Leid für Unterhaltungszwecke ausgebeutet werden könnte.
Drehbuchautorin Ruth Toma hält in einem Zeitungsinterview fest, dass Kampusch weder am Drehbuch noch am Film direkt mitgearbeitet habe (Kahlweit, 2013). Dennoch lag ihr grundsätzliches Einverständnis zur Verfilmung ihrer Geschichte vor, was als gewichtiges Argument für die Legitimierung des Filmes ins Feld geführt werden. Kampusch ging es darum einen Schlussstrich zu ziehen und Kritikern bildlich zu zeigen, wie ihre Kindheit im Verlies aussah (Körzdörfer, 2013).

Dennoch kann argumentiert werden, dass die gezeigte Gewalt und der Film an sich kommerzielle Ziele verfolgten und es nicht nur darum ging, das erfahrene Leid zu verarbeiten. Ein Indiz dafür ist beispielsweise die Wahl der Schauspieler. Die Produktionsentscheidung, die österreichischen Schauspielerrollen zur besseren Vermarktbarkeit mit einem internationalen Cast zu besetzen, wird in Filmkritiken teilweise kritisiert (Baumgardt, 2013).

Ob die bessere Vermarktbarkeit auch für die Wahl des Filmgenres (Spielfilm) entscheidend war, ist fraglich. Faulstich (1995) hält in seiner Unterscheidung verschiedener Darstellungsmöglichkeiten fest, dass bei Dokumentarfilmen grundsätzlich Nicht-Fiktionales dargestellt wird, mit dem Anspruch die Wirklichkeit zu zeigen, während der Spielfilm ein ästhetisches Produkt ist, das Fiktionales vermittelt. Weshalb haben sich folglich die Produzenten nicht für einen Dokumentarfilm entschieden, wenn stattgefundenes Leid möglichst realitätsgetreu gezeigt werden soll? Daran anknüpfend kann die Frage gestellt werden, weshalb im Film sexuelle Gewalt thematisiert und gezeigt wird, während sich Kampusch im gleichnamigen Buch darüber ausschweigt. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte die Drehbuchautorin Ruth Toma, dass Kampusch über dieses Thema nicht habe reden wollen. Die Szenen seien deshalb «so erfunden, wie wir sie verstanden haben» (Toma, 2013, zitiert nach Kahlweit, 2013, o.S.). Ob Toma mit der Darstellung sexueller Gewalt lediglich die Realität abbilden oder den Film damit emotional aufladen wollte, ist nicht final zu klären. Dass sich sexuelle Gewalt von anderen Gewaltformen unterscheidet und sich zur Emotionalisierung eines Filmes anbietet, hält Wagner (2015) für erwiesen. Während in Science-Fiction-Filmen ganze Städte explodieren können und selbst in Close-Up Einstellungen der Tod gezeigt wird, hat der Zuschauer dauernd die Lesart des «Als-Ob» vor Augen. «Die Zuschauenden empfinden beim Anblick von Schmerzen keine Schmerzen; die Körperempfindungen diesseits und jenseits der Leinwand ist nicht der gleichen Natur» (Wagner, 2015, S. 53). Bei der Darstellung sexueller Gewalt jedoch, droht für Wagner die Trennung zwischen Leinwand und Realität zu verschwimmen und das fiktionale «Als-Ob» wird ausser Kraft gesetzt, sodass sexuelle Gewalt im Film den Schmerz viel eher an den Rezipienten überträgt (Wagner, 2015). Demgegenüber relativiert Schwarz (2015), dass es Filmemachern in der heutigen Zeit zusehends schwer fällt mit den Themen Sex und Gewalt, die Zuschauer zu schockieren und in den Bann zu ziehen. «Kein Körperteil, das nicht bereits auf jede erdenkliche Art und Weise und in jeder Stufe der Explizität auf der Leinwand (…) dargestellt, aufgelöst, betrachtet und seziert wurde. Kaum eine sexuelle Phantasie oder Randerscheinung, die nicht bereits eine visuelle Fleischwerdung auf der Leinwand erfahren hat» (Schwarz, 2015, S. 209). Durch diese Abgestumpftheit der Zuschauer fokussierten die technischen Neuerungen im Kino der letzten Jahre darauf, die Realität perfekt zu simulieren und Situationen noch schärfer und mit einem noch besseren Sound erlebbar zu machen. Diese für viele Filme und ganze Genres wohl richtige Beobachtung von Schwarz (2015), trifft auf den Film 3096 Tage nur teilweise zu. Die Filmeinstellung der teilnahmslos daliegenden Kampusch-Darstellerin unter ihrem Peiniger ist wohl eine der schmerzlichsten Einstellungen des gesamten Filmes und sie besticht gerade nicht durch eine besonders explizite Darstellung der sexuellen Gewalt, sondern vielmehr durch ihre Sensibilität.
Zudem kann festgehalten werden, dass die inhaltliche Darstellung der Gewalt sich zwar gegen eine Minderjährige richtet, sie sich aber im ethisch legitimen Rahmen nach (Bohrmann, 2010) bewegt. Die Gewalt wird folglich weder verherrlicht noch verharmlost, sondern so gezeigt, dass sich der Zuschauer gefühlsmässig gut in das Opfer hineinversetzen kann. Es wäre im Gegenteil unverständlich, wenn der Film ohne Gewalt ausgekommen wäre.

Schlussfolgerung

Künstlerische Darstellungen sexueller Gewalt zu untersuchen ist relevant, beeinflussen sie doch unsere Einstellungen und Diskurse über diese Thematik. Diese Untersuchungen bieten sich bei Artefakten, die auf Zeugnissen Überlebender beruhen und denen deswegen eine beinahe uneingeschränkte Deutungsautorität eingeräumt wird, besonders an (Reemtsma, 1997). Wenn ein Mensch acht Jahre seiner Kindheit in Gefangenschaft verbringt, sollte im Nachgang an ein solches Erlebnis alles darangesetzt werden, diesem Menschen ein einigermassen vernünftiges Leben zu ermöglichen. Natascha Kampusch war es wichtig, nicht in die klassische Opferrolle gedrängt zu werden und sprach auch deshalb offen über ihre Erlebnisse. Wenn diese offene Kommunikation Teil ihrer Verarbeitungsstrategie ist, gilt es dies aus meiner Sicht zu respektieren. Wenn sie ihren Kritikern ihr Leid zusätzlich mit einem Film näherbringen will, ist das meines Erachtens ebenfalls legitim. Dass dabei Gewalt gezeigt wird, ist vertretbar, wenn nicht gar notwendig. Weiter ist es für mich nicht verwerflich, wenn sich die Filmproduktion den Gegebenheiten des Marktes ein Stück weit anpasst. Die Wahl der englischen Originalvertonung für ein Drama in Österreich, hat allerdings einen faden Beigeschmack. Dadurch dass Natascha Kampusch in die Verfilmung einwilligte und es dem Film anzusehen ist, dass sich die Macher um eine möglichst sensible Darstellung bemühten, kann die Fragestellung dahingehend beantwortet werden, dass nicht von einer Ausbeutung der Geschehnisse zu Unterhaltungszwecken gesprochen werden kann. Inwieweit der Film und die Preisgabe sämtlicher Details den Verarbeitungsprozess für Natascha Kampusch begünstigen, bleibt offen.

Literaturverzeichnis

Bandar, M. (6. Juni 2010). Kampusch schildert ihre 3096 Tage im Verlies. Welt. Abgerufen unter: https://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article9430391/Kampusch-schildert-ihre-3096-Tage-im-Verlies.html (21.04.2019).
Baumgardt, C. (28. Februar 2013). 3096 Tage. Filmstarts. Abgerufen unter: http://www.filmstarts.de/kritiken/182270/kritik.html (28.04.2019).
Faulstich, W. (1995). Die Filminterpretation (2. Aufl.). Göttingen, DE: Vandenhoeck.
Kahlweit, C. (23. Februar 2013). Nichts ist mehr privat. Sueddeutschte, Abgerufen unter: https://www.sueddeutsche.de/panorama/film-ueber-natascha-kampusch-nichts-ist-mehr-privat-1.1607606 (28.04.2019).
Kampusch, N., Gronemeier, N. & Milborn C. (2010). 3096 Tage. Berlin, DE: List.
Koch, A. (2008). Das unsägliche Verbrechen. Überlegungen zur Tabuisierung von sexueller Gewalt im Spielfilm. In U. Frietsch, K. Hanitzsch, J. John & B. Michaelis (Hrsg.), Geschlecht als Tabu (S. 187-204). Bielefeld, DE: transcript Verlag. doi: 10.14361/9783839407134-013.
Körzdörfer, N. (2013). Zum 1. Mal spricht sie über ihre Vergewaltigung. Bild. Abgerufen unter: https://www.bild.de/unterhaltung/leute/natascha-kampusch/im-interview-mit-bild-28580692.bild.html (28.04.2019).
Kotthaus, J. (2015). Sexuelle Gewalt im Film. Weinheim, DE: Beltz Juventa.
Kozick , R. (1969). Coercion. In S. Morgenbesser, P. Suppes & M. G. White (Hrsg.), Philosophy, Science, and Method: Essays in Honor of Ernest Nagel. (S. 440-472). New York, NY: St. Martin’s Press.
Reemtsma, J. P. (1997). Die Memoiren Überlebender. Eine Literaturgattung des 20. Jahrhunderts. Mittelweg 36, 4, 20-39.
Schwarz, F. (2015). 50 Jahre Dr. Hans Matthäi. Die Entwicklung der Darstellung sexueller Gewalt gegen Kinder im kommerziellen Kino. In J. Kotthaus (Hrsg.), Sexuelle Gewalt im Film. (S. 208-224). Weinheim, DE: Beltz Juventa.
Wagner, H. (2015). Sexuelle Gewalt im Film: Überlegungen zum Darstellungsaspekt von Sexualität und zu möglichen Filmlektüren. In J. Kotthaus (Hrsg.), Sexuelle Gewalt im Film. (S. 43-57). Weinheim, DE: Beltz Juventa.
Zanetti, V. (2011). Gewalt und Zwang. In R. Stoecker, C. Neuhäuser & M.L. Raters (Hrsg.), Handbuch Angewandte Ethik (S. 351-360). Stuttgart, DE: J.B. Metzler. doi: 10.1007/978-3-476-05320-6.

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