Eine Reportage aus Scheid (GR).

Richard Raguth Tscharner in seinem Element. Er ist einer der Glöckner in Scheid.

Zur Kirche hinein, zweimal linksum, durch die hölzerne Türe und dann ist es dunkel und eng. Dem Schreibenden fällt es schwer, über die steilen und knatternden Stufen mit dem 30 Jahre älteren Richard Raguth Tscharner Schritt zu halten. Letzterer ist für das wöchentliche Kirchengeläut in Scheid im Domleschg verantwortlich. Oben angekommen, sitzt Raguth Tscharner bereits auf seiner angestammten Glöcknerposition und sieht zu, dass ich mir an den beiden dicht über uns hängenden Kirchenglocken den Kopf nicht stosse. «Da wären wir», sagt er und beginnt die Geschichte über den erhaltenen Brauch der von Hand geläuteten Kirchenglocken zu erzählen.

Kirche versus Gemeinde

Seit jeher werden in Scheid die Kirchenglocken samstags um 11, am Sonntag beim Gottesdienst und an bestimmten Feiertagen von Hand geläutet. «Bis vor rund 40 Jahren war jede Woche ein anderer Haushalt im Dorf für das Läuten der Glocken zuständig», erinnert sich Richard Raguth Tscharner. 

Als es vor 40 Jahren darum ging, die Kirche zu erweitern, kam auch das Thema einer Elektrifizierung des Kirchengeläuts auf. Denn längst nicht alle Dorfbewohner kraxelten gleich enthusiastisch wie Raguth Tscharner den Kirchturm empor und pflegten die Tradition derart leidenschaftlich wie er.

Anlässlich der Gemeindeversammlung setzten sich die Befürworter eines elektrischen Kirchengeläuts knapp durch. Weil aber auch die Kirchgemeinde ein Wörtchen mitzureden hatte und sie sich für den manuellen Läut-Betrieb aussprach, liess die Gemeinde die Elektrifizierung schliesslich unter bestimmten Bedingungen bleiben.

Nun war nicht mehr länger jeder Haushalt turnusmässig für das Kirchengeläut zuständig, sondern ein paar wenige im Dorf mussten den Betrieb fortan sicherstellen. Einer von ihnen war Richard Raguth Tscharner, der sich mit rund sechs weiteren Glöckner das samstägliche Kirchengeläut-Ämtli bis heute teilt.

Kein Gebimmel, sondern rhythmisches Musizieren

Der aktuelle Ablöseplan der Glöckner von Scheid ist in einem Glaskasten beim Eingang zur Kirche für jedermann einsehbar. Falls es einmal nicht bimmeln sollte, kann jeder Dorfbewohner sehen, wer für das Läuten verantwortlich gewesen wäre. «Aber ein Versäumen kommt eigentlich nie vor», versichert Raguth Tscharner. «Auf die Jungen ist bei uns Verlass und die machen das auch wirklich gut, denn das korrekte Läuten will gelernt sein.»

Der Klang und das rhythmische Läuten seien ebenfalls ein Mitgrund gewesen, weshalb man das manuelle Läuten von Hand aufrecht erhalten wollte. «Beim elektrischen Betrieb schlagen die beiden Glocken teilweise auf denselben Schlag und das klingt nicht schön. So etwas gibt es bei uns nicht», führt Richard Raguth Tscharner aus. Alleine vom Rhythmus des Glockenschlages wissen die Dorfbewohner, wer gerade im Turm sitzt und am Seil zieht.

Arbeit niederlegen

Ertönen im 130-Seelen-Dorf im Domleschg die Glockenschläge, lassen einige Bewohner auch heute noch die Arbeit einen Moment ruhen und lauschen dem Takt des Glöckners. «Auch ich schalte unten in meiner Werkstatt meine Maschinen jeweils kurz aus und halte einen Moment inne», sagt Raguth Tscharner. Die Wertschätzung der Glöckner zeigt sich auch bei der Predigt. So beginnt der Gottesdienst erst, wenn der Glöckner von seinem Turm herunter gestiegen ist und in der Kirche Platz genommen hat.

Mitten ins Herz geht es den Zuhörenden auch, wenn in Scheid eine Beerdigung stattfindet. «Das Gefühl, wenn die Glocken von Menschenhand in Schwingung gebracht werden, ist ein anderes, als wenn irgendwo ein Knopf gedrückt werden muss», sagt Raguth Tscharner.

Tradition weitergeben

Dass die Tradition einmal nicht weitergeführt werden könnte, glaubt Raguth Tscharner indes nicht. «Zumindest für die nächsten zehn bis 15 Jahre sollte die Fortführung des Brauchs sichergestellt sein. Was danach kommt, weiss niemand. Aber selbst wenn ich pensioniert bin, kann ich ja immer noch für das Schlagen der Glocken verantwortlich sein. Als Vollzeit-Glöckner sozusagen.»

Sagt es und lässt den Autor auf dem Weg vom Kirchturm herab wieder alt aussehen. (bae)