«Surprise, Surprise» – eine Kurzgeschichte

Eine Geschichte über den Surprise-Verkäufer Kumar am Bahnhof Bern. Die Handlung ist frei erfunden, den Verkäufer Kumar gab es wirklich.

«Surprise, Surprise»

An dieser Stelle des Bahnhofes, an der Kumar versucht seine Magazine an vorbeieilende Pendler zu verkaufen, weht meist ein eisiger Wind. Menschenmassen zwängen sich wie eine Ameisenkolonie dicht an dicht an ihm vorbei, durch die zu kleine Bahnhof-Passerelle den Gleisaufgängen entgegen.

In Kumars Augen sehen die meisten von ihnen gestresst aus. Diejenigen, die den Eindruck erwecken, das Rennen gegen die Zeit noch nicht aufgenommen oder schon längst verloren zu haben, blicken gesenkten Hauptes in ihre Smartphonebildschirme. Mit ihren Nachrichten stressen sie wohl andere Menschen, an anderen Bahnhöfen, denkt sich Kumar. Aber nicht ihn, nicht Kumar Rathakrishnan, den Flüchtling aus Sri Lanka. Während sich alles rundherum bewegt, ist er eine feste Grösse in der Stadt, eine Konstante, wie sie sich viele Menschen in ihrem Leben wünschen. Viele, die in der morgentlichen Hektik zu ertrinken drohen, suchen wie in Seenot geratene Boote mit ihren Blicken nach dem Leuchtturm in Person von Kumar. Mit seiner täglichen Präsenz und seiner stämmigen Statur ist Kumar für tausende Zugreisende ein Rettungsanker in der Flut der Pendlerströme.

«Surprise, Surprise» ruft Kumar immer wieder den Titel des Magazins in die kalte Bahnhof-Passerelle und hält lächelnd Ausschau nach potentiellen Käufern. Antworten auf seine Rufe erhält er nie, zumindest keine mit Worten. Bringt ein Pendler gelegentlich ein zurückhaltendes Lächeln über seine Lippen, verspürt Kumar eine innere Wärme, als hätte er gerade mehrere Surprise-Magazine auf einmal verkauft. Seinen kalten Verkaufsplatz verlässt er nur selten, und wenn doch, dann meistens um liegengebliebenen Pendlermüll vom Boden aufzuheben. Wenn die Verkäufe gut laufen, genehmigt er sich einen Kaffee drüben bei Susanne vom Take Away. Nicht weil er Kaffee sonderlich mag, sondern weil er so seine Finger wieder zu spüren beginnt.

«Wie laufen die Gespräche mit dem Chef?», fragt Susanne beim heutigen Besuch. «Immer noch nichts Neues», antwortet Kumar mit seinem tamilischen Akzent. «Wie lange dauert das denn bei denen?» hakt Susanne nach. Kumar nimmt den letzten Schluck seines Kaffees und antwortet beim Verlassen des Geschäfts: «Ich habe Zeit und dank dir auch wieder warme Finger.»

Schon sieben Wochen sind seit seiner neuerlichen Bewerbung für die Stelle im Surprise-Vertriebsbüro vergangen und viel Zeit bleibt ihm auch nicht mehr. Der armselige Lohn des Magazinverkaufs reicht nur knapp aus, um über die Runden zu kommen. Und in wenigen Wochen tritt die verschärfte Gesetzgebung zur Bemessung der Sozialhilfegelder in Kraft. Auch wenn die Finger nun warm sind, läuft es Kumar kalt den Rücken herunter, wenn er daran denkt, sich sein täglich Brot nicht mehr leisten zu können. Es erinnert ihn an vergangene Zeiten, die ihn vor 30 Jahren aus seinem Heimatland getrieben haben. Mit Susanne mag er nicht über sein altes Leben in Sri Lanka und seine Geldsorgen sprechen. Die schönen, aber viel zu kurzen Momente mit ihr will Kumar nicht mit solchen Themen verschwenden. Er nimmt das nächste Bündel von seinem Magazinstapel und ruft solange «Surprise, Surprise» durch die Bahnhofshalle, bis aus den hektischen Pendlerströmen ein ruhiger Pendlerfluss geworden ist.

Am nächsten Morgen ist alles anders. Kaum beginnt Kumar die ersten Magazine in die Höhe zu halten, steht plötzlich sein Vorgesetzter vor ihm. «Gratuliere…. Stelle ….sbüro… ich freue mich und hoffentlich bis am Montag.» Im morgentlichen Pendlerlärm hat Kumar nur Bruchstücke verstanden. Paar wiederholte Sätze später war ihm klar, dass er soeben die Stelle im Vertriebsbüro erhalten hat. Selten war der Titel seiner Magazine treffender als in diesem Augenblick. Mit Tränen der Erleichterung in den Augen, lädt er wenig später Susanne zum teuren Kaffee beim Bäcker ein. Während des Kaffeetrinkens wird Kumar bewusst, dass er Susanne künftig nicht mehr täglich sehen wird und seine Freude über den neuen Job weicht Schluck für Schluck einem stechenden Schmerz in der Brust. «Du musst mir versprechen, morgens auf dem Weg zur Arbeit einen Kaffee bei mir holen zu kommen», sagt Susanne mit einem Zwinkern. Kumar lächelt und schenkt ihr zur Verabschiedung eines seiner Magazine.

«Jetzt bin ich einer von ihnen», denkt sich Kumar am darauffolgenden Montag. Einer, der er nie hätte werden wollen. Ein Gestresster, der nur noch Augen für sich selbst und sein Smartphone hat. Im Grossraumbüro stört sich Kumar am sterilen Licht, den leeren Blicken in Computermonitore und dieser unsäglichen Ruhe. Alsbald wünscht er sich wieder an seinem Bahnhof stehen zu können. Susanne sieht, wie sehr Kumar unter der Arbeit im Vertriebsbüro leidet. Sie kann es kaum ertragen, mitansehen zu müssen, wie Kumars Dauerlächeln beim morgentlichen Kaffeeholen, einem grimmigen Pendlerblick weicht.

Einige Wochen später betritt Kumar den Take Away mit einem Lächeln, wie es Susanne schon länger nicht mehr in Kumars Gesicht gesehen hat. Er packt sie an der Hand und sagt: «Komm mit, ich habe eine Idee». Er erklärt ihr, dass er die Stelle im Vertriebsbüro aufgegeben hat und er es leid ist, nur wegen des höheren Lohnes eine Arbeit zu machen, die ihn überhaupt nicht glücklich macht. «Ich will etwas Neues machen. Am Bahnhof. Mit dir», sagt er. Und schon bald darauf war er wieder da. Kumar der Leuchtturm, der für tausende Pendler ein Fixpunkt auf dem Weg zur Arbeit ist. Gemeinsam mit Susanne ruft er von seinem mobilen Verkaufsstand in die kalte Bahnhof-Passerelle: «Café Surprise, Café Surprise».

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