Kritik / Rezension: Jäger, Hirten, Kritiker – Eine Utopie für die digitale Gesellschaft von Richard David Precht

Eine Kritik / Rezension zum Buch Jäger, Hirten, Kritiker – eine Utopie für die digitale Gesellschaft von Richard David Precht im Rahmen eines Moduls an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur/CH.

Viel Spass bei der Lektüre und gebt mir Feedback in den Kommentaren.

Normalzustand: arbeitslos

In was für einer digitalen Gesellschaft wollen wir in Zukunft leben? In einer Arbeits- und Leistungsgesellschaft, die von Effizienzdenken und ständigem Drang nach Selbstoptimierung geprägt ist, oder in einer Gesellschaft, in der Individualismus und Selbstbestimmtheit die wichtigsten Maxime im Leben der Menschen sind? Der deutsche Schriftsteller und Philosoph Richard David Precht zeigt in seinem neuesten Buch «Jäger, Hirten, Kritiker – Eine Utopie für die digitale Gesellschaft» die Chancen und Risiken der Digitalisierung auf und entwirft Pläne zu deren Gestaltung.

Von Bernhard Aebersold

Im Buch zeichnet Precht zunächst das Bild einer Dystopie «Deutschland 2040», die den Leser erschauern lässt: Die «Quantified-Self-Mentalität» bei der alles und jeder getrackt wird oder sich selbst trackt, hat die gesamte Gesellschaft durchdrungen. Wenige, global agierende Tech-Unternehmen treiben den Gedanken des ständigen Wirtschaftswachstums gekonnt voran und wollen durch technischen Fortschritt und Effizienzsteigerungen den Supermenschen erschaffen. Diejenigen, denen der Fortschritt zu schnell vorangeht, bleiben nach der «Fisherman’s Friend-Logik» auf der Strecke: «Ist der Fortschritt für dich zu stark, so bist du zu schwach». Die Menschen befinden sich in einem digitalen Käfig und ob dem exzessiven Self-Tracking geht jedwede Moral verloren. Maschinen arbeiten für Menschen und die Arbeitslosen werden mit minimaler Sozialhilfe über Wasser gehalten. Statt des Supermenschen produziert das Silicon Valley viel eher «Wesen, die ohne Hilfsmittel nichts mehr können» stellt Precht in seiner Dystopie dar. Die nationale Politik ist mit Taktieren beschäftigt. Sie ignoriert den herannahenden Eisberg und «dekoriert auf der Titanic derweil die Liegestühle um».

Nach dieser Einführung entsteht der Eindruck, beim Autor handle es sich um einen technikfeindlich eingestellten Philosophen, der im Jahr 2018 den Einstieg in das digitale Zeitalter verschlafen hat und nun ein Plädoyer gegen die Digitalisierung hält. Aber das Gegenteil ist der Fall. Precht will eine Vision entwerfen, die aufzeigt, dass die Digitalisierung und der technische Fortschritt immer im Sinne des Menschen gemacht werden sollte. Er will sich der Digitalisierung nicht verschliessen, sondern versuchen sie so zu steuern, dass die Menschlichkeit und das Wohl der Gesellschaft nicht von ihr überfahren werden.
Nachdem Precht gezeigt hat, wie die Zukunft wohl besser nicht aussehen sollte, widmet er sich seinem 160-seitigen Gegenentwurf: Der «humanen Utopie». Die Ausgangslage ist identisch der Dystopie: Immer mehr Arbeiten, die heute von Menschen verrichtet werden, werden künftig automatisiert und von Maschinen erledigt. Ganze Berufsfelder werden algorithmisiert und Busfahrer werden durch selbstfahrende Autos ersetzt, die weder Lohn noch Pausen benötigen. Der Grossteil der Erwerbsarbeit, wie wir sie heute kennen, dürfte gemäss Precht wegfallen, so dass nicht mehr genug Arbeit für alle da ist. Es droht ein Normalzustand der Massenarbeitslosigkeit, der für viele Menschen aus heutiger Sicht einem massiven gesellschaftlichen Abstieg gleichkommt.

Diese Kernthese hat weitreichende Folgen, denen sich Precht der Reihe nach annimmt. So zum Beispiel die Auswirkungen auf den Sozialstaat. Wenn immer weniger Menschen arbeiten und Sozialbeiträge bezahlen, aber gleichzeitig massiv mehr Menschen arbeitslos werden, kann der heutige Sozialstaat nicht aufrechterhalten werden. Als Precht zur Erörterung seines Lösungsvorschlags in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens (kurz BGE) ansetzt, erreicht das Buch seinen Höhepunkt:
Tiefgründig und umsichtig nimmt er sich den Kritikpunkten des BGE an und zeigt in bildhafter Sprache auf, wie er sich eine künftige Gesellschaft vorstellt, in der jeder Bürger ohne sein Zutun einen fixen Geldbetrag von mindestens 1’500 Euro erhalten soll. Er untermalt seine Argumentationen mit Gedanken grosser philosophischer Denker, aktuellen politischen Debatten und gesellschaftlichen Entwicklungen. Precht gelingt es, komplexe Sachverhalte in eine Sprache zu verpacken, die selbst für Kritiker einleuchtend erscheint.
Bei den Ausführungen zur Finanzierung des BGE hält sich Precht etwas kurz. Dies hinterlässt einen faden Beigeschmack, denn die Finanzierung des BGE ist ein wichtiger Faktor, ohne den jede weitere Diskussion überflüssig erscheint. Zumal die von ihm vorgeschlagene Finanzierungsmethode über eine sogenannte Finanztransaktionssteuer unter Ökonomen nicht unumstritten ist. Dabei wird auf den Handel mit Finanzprodukten eine Steuer von rund 0.05% erhoben. Der Kleinsparer mit ein paar Aktien dürfte von dieser Steuer kaum etwas bemerken, der risikoreiche Spekulant, der mit riesigen Geldsummen herumjongliert allerdings schon.

Dennoch weicht bei der Lektüre das abstrakte Gedankenkonstrukt des BGE einer greifbar nahen Gesellschaftsform der Zukunft. Es wird deutlich, dass das BGE nur ein Puzzleteil auf dem Weg zu Prechts «humaner Utopie» ist. Es gibt mehrere Stellschrauben, an denen gleichzeitig gedreht werden muss. Das Bildungssystem kann als solche Stellschraube betrachtet werden. Den Grund spricht Precht bereits im Titel des Buches «Jäger, Hirten, Kritiker» an. In seiner Utopie muss niemand mehr für Geld arbeiten gehen, sondern jeder macht das, was ihm Freude bereitet. Vormittags jagen, nachmittags Viehzucht betreiben und abends kritisieren. Dafür müssen dem Bildungssystem aber Menschen entspringen, die nicht mehr länger auf den Arbeitsmarkt zugeschnitten werden, sondern solche, die selbst Pläne für ihren Alltag entwerfen und umsetzen können. Der Fokus der Schulbildung muss folglich verstärkt auf der Selbstbestimmung und der intrinsischen Motivation liegen.

In der Vergangenheit hat sich Richard David Precht bereits mehrmals mit grossen gesellschaftlichen Fragen auf eine ungewohnt offene und klare Art auseinandergesetzt, was ihm in Deutschland den Übernamen des «populärsten Philosophen des Landes» eingebracht hat. Seine Art, komplexe Dinge, bildhaft und verständlich in Schrift und Sprache zu verpacken, bescheren ihm regelmässige Top-Platzierungen in Bestsellerlisten und unzählige Auftritte in Talkshows. Sein im April 2018 erschienenes Buch knüpft hier an. Ob an Podiumsdiskussionen oder in «Jäger, Hirten, Kritiker», Precht greift in seinen Ausführungen oft Philosophen auf und adaptiert deren Ansichten auf heutige Problemstellungen wie den Umgang mit selbstfahrenden Autos. Dabei ergänzt er deren Gedanken mit seinen eigenen und schafft den Spagat sich auch noch mit grossen philosophischen Fragen wie «Was ist Glück, was ist Gerechtigkeit oder was ist Moral?» auseinanderzusetzen. Dabei verliert sich Precht nicht in abstrakten Gedankenwelten, sondern findet durch seine kluge Wortwahl immer wieder den Weg zurück zum eigentlichen Thema. Gerade in unserer schnelllebigen Gesellschaft, in der sich viele nicht mehr die Zeit nehmen, Dinge zu hinterfragen und Meinungen bereits vorgefertigt sind, tut es gut, wieder einmal über Ideen der grossen Denker in einem aktuellen Kontext zu lesen.

Auch wenn Precht als Verfechter des BGE gilt und aus einem linksgerichteten Milieu stammt, knöpft er sich in seinen Ausführungen rechte wie linke Ansichten gleichermassen vor und zeigt auch Verständnis für jüngste politische Entwicklungen in Deutschland. Seine Formulierungen sind sehr umsichtig, aber präzis in der Sache.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches könnte passender nicht sein. Viele Menschen beginnen die ersten Auswirkungen einer digitalen, globalisierten Welt zu spüren und wissen nicht, was sie davon halten sollen. Prechts Buch schafft den nötigen Überblick just dann, als die Verwendung des Begriffs der «Digitalisierung» inflationär zunahm.

Kritiker argumentierten in der Vergangenheit, dass Prechts Ausführungen nicht oder zu wenig wissenschaftlich fundiert seien. Auf gewisse Inhalte ist die Kritik zutreffend. So ist beispielsweise unklar, ob die Automatisierung tatsächlich zu einer Massenarbeitslosigkeit führen wird oder ob nicht doch neue Berufsfelder entstehen, die wir heute vielleicht noch gar nicht kennen. Die Frage ist jedoch, inwieweit es überhaupt Prechts Ziel war, eine pfannenfertige Lösung aller Problemfelder der Digitalisierung aus dem Hut zu zaubern. Viel eher handelt es sich um einen Entwurf eines möglichen Weges, der in Zukunft noch weiter diskutiert werden muss. Eine fundierte Grundlage hat Precht mit seinem Buch sicherlich geschaffen.

«Jäger, Hirten, Kritiker» von Richard David Precht sei jedem empfohlen, der sich gerne Gedanken über die Zukunft unserer Gesellschaft macht. Dabei muss man weder Interesse am BGE haben, noch Wissen in anderen politischen oder philosophischen Gebieten mitbringen. Prechts Art, seine Gedankengänge niederzuschreiben, gehört zum Besten, was aus der deutschen Sprache herausgeholt werden kann. Dieser Schreibstil ist derart anziehend, dass Interessen für Themen entstehen, von denen man vorher gar nicht wusste, dass es sie überhaupt gibt. Längere Ausführungen schliesst der Autor regelmässig mit einem zusammenfassenden Satz ab. Als Leser wünscht man sich, diese auf den Punkt gebrachten Sätze bei der nächsten Politdiskussion unter Freunden aus dem Ärmel schütteln zu können.

2 Antworten auf „Kritik / Rezension: Jäger, Hirten, Kritiker – Eine Utopie für die digitale Gesellschaft von Richard David Precht“

  1. Es gibt drei substantielle Formen von Kapitalsteuern:

    Die Vermögensteuer (bewertet das Gesamtvermögen einschl. Immobilien, Wertsachen wie Mobilien und Kapital – auch Patente, Beteiligungen an Unternehmen u.ä. – als gebundene Einheit und erhebt darauf eine Abgabe), die Kapitalertragssteuer (bewertet den Kapitalwert des Rückflusses auf investiertes Kapital an einem Stichtag oder innerhalb eines Zeitraumes) oder die jetzt diskutierte Kapitaltransaktionssteuer, die jede Kapitalbewegung mit einer Abgabe belegt (Zahlungsvorgänge, Anlagen, Kapitalertragszuflüsse, Buchungen)

    Den größten Kontroll- und Verwaltungsaufwand erfordert die Vermögenssteuer, den geringsten die Transaktionssteuer, da sie voll digitalisierbar ist. Selbst Barzahlungen werden sehr kurzfristig wieder im Buchhaltungskreislauf auftauchen.

    In den Volkswirtschaften der Zukunft (mit in dem Buch geschilderten Ist-Zustand) ist die KTrS die einzig logische Konsequenz, da die gegenwärtig bedeutsamsten Steuern (Einkommen- und Produkt-Steuern) die Ausgaben der Staaten nicht mehr decken können.

    Und dass wir mit rascher Geschwindigkeit auf dem Weg in diesen zukünftigen Ist-Zustand sind, ist offensichtlich.

    1. Vielen Dank für deinen Kommentar Uwe!

      Ich kenn mich ehrlich gesagt zu wenig gut mit den volkswirtschaftlichen Zusammenhängen in Bezug auf die von dir angesprochenen Formen der Kapitalsteuer aus.

      Du würdest also sagen, dass eine Finanztransaktionssteuer so gut wie unumgänglich ist und wir früher oder später sowieso eine einführen werden? Gibt es aus deiner Sicht keine Alternative?

      Und ist es denn etwas Neues, dass Staaten ihre Ausgaben nicht mehr decken können?

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